đŸ”„..SPD und Russland.đŸ”„.. Alle Fehler schon immer richtig gemacht..đŸ”„

5. Mai 2022 Aus Von DieVolleWahrheit

Gerade werden die negativen Folgen zahlreicher Entscheidungen der SPD in Bezug auf Russland sichtbar. Doch deren Spitzenleute nehmen keine Kritik an, sondern ĂŒben sich im politischen RĂŒckwĂ€rtszĂ€hlen.28.04.2022, 20.56 Uhr

BundesprÀsident Frank-Walter Steinmeier auf Reisen

BundesprĂ€sident Frank-Walter Steinmeier auf Reisen Foto: 

Bernd von Jutrczenka / picture alliance / dpa

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem BewerbungsgesprĂ€ch. Ihre potenzielle zukĂŒnftige Chefin hĂ€lt Ihren Lebenslauf in der Hand. »Aha, hier haben Sie also eine Weiterbildung gemacht, dann zwei Jahre im Ausland – und dann «, sie fĂ€hrt mit dem Finger die tabellarische Auflistung Ihrer beruflichen Stationen ab, » und dann hatten Sie ĂŒber einige Jahre regelmĂ€ĂŸig Kontakt mit einem Kriegsverbrecher – also wie wir heute wissen – sowie mit einigen seiner GeschĂ€ftspartner im In- und Ausland. Rosneft
 Gazprom
 Hm, also, nicht, dass es mich etwas angehen wĂŒrde, aber Sie mĂŒssen wissen: Ehrlichkeit ist uns in unserem Unternehmen besonders wichtig. Könnten Sie mir daher bitte kurz erklĂ€ren, wie es dazu kam?«Samira El Ouassil 

Foto: Stefan KlĂŒter

1984 in MĂŒnchen geboren, ist Schauspielerin und Autorin. FĂŒr ihre medienkritische Kolumne »Wochenschau« auf uebermedien.de wurde sie mit dem Bert-Donnepp-Preis fĂŒr Medienpublizistik ausgezeichnet. JĂŒngst wurde sie vom »Medium Magazin« zur Kulturjournalistin des Jahres gekĂŒrt. Im Oktober 2021 veröffentlichte sie zusammen mit Friedemann Karig den Bestseller »ErzĂ€hlende Affen«.

Vermutlich waren die wenigsten von uns schon mal in dieser konkreten Situation. Aber sollte Ihnen das irgendwann einmal passieren, dann bleiben Ihnen im Grunde nicht viele Möglichkeiten: Sie können diesen Ă€rgerlichen Teil Ihrer Karriere verleugnen; oder aber ihn selbstbewusst bestĂ€tigen; oder ihn nach allen Regeln der rhetorischen Kunst schönreden. Wie das funktionieren soll? Nun, gegenwĂ€rtig sollten Sie das Verhalten prominenter Akteure der SPD studieren, um zu lernen, wie man die TĂŒcken im Lebenslauf und ihre gegenwĂ€rtigen Konsequenzen schnell frisiert und an das Assessment-Center der öffentlichen Kritik anpasst, um den Job zu behalten.

Nein, es geht hier nicht um ein Anstacheln einer Ă€hnlichen Causa wie im Falle des Lebenslaufs von Annalena Baerbock. Denn was die SPD momentan fabriziert, betrifft die Leben vieler Menschen und politischer Akteure.Man stellt die Torpfosten in der Vergangenheit um, sodass das Eigentor der Gegenwart wie ein vergeigter Elfmeter wirkt.

Sicherlich haben Sie mitbekommen, dass unser BundesprĂ€sident Frank-Walter Steinmeier Fehler in seiner Russland-/Ukrainepolitik eingestanden hat. Danach blieb jedoch eine weitere Auseinandersetzung und Aufarbeitung dieser misslungenen außenpolitischen EinschĂ€tzungen aus, weshalb man der ukrainischen Regierung ihre Irritation nicht ganz ĂŒbel nehmen konnte. Welche Konsequenzen folgen aus dieser Politik? Wie konnte es dazu kommen? Was sind die Learnings aus der eigenen professionellen Vita?

Sigmar Gabriel wiederum versuchte, seinem Parteikollegen beizuspringen und vergab in einem großen PlĂ€doyer im SPIEGEL öffentliche Fleißpunkte fĂŒr Steinmeiers Curriculum, das ihm zufolge belege, dass er doch sehr viel, wenn nicht sogar fast alles, sehr richtig gemacht habe.

Gabriel erklĂ€rt, dass der heutige BundesprĂ€sident mit Angela Merkel Â»mehr als alle anderen in Europa dafĂŒr getan hat, die Ukraine zu unterstĂŒtzen«. Mit einer großen historischen Geste schiebt er auch der Ukraine eine gewisse Mitschuld am Krieg zu und erklĂ€rt, dass die Minsker VertrĂ€ge zur Schaffung einer Waffenruhe in der Ostukraine nie wirklich eingehalten wurden; was ja eben nicht nur an Steinmeier oder an den Patronatsstaaten Deutschland und Frankreich lĂ€ge:

»Die politischen Vertreter der Ukraine haben nie so etwas wie >Ownership< fĂŒr die Minsker Abkommen entwickelt, was wiederum die russische FĂŒhrung ihrerseits nutzte, um sich ihrer Verantwortung fĂŒr die Umsetzung der Abkommen zu entziehen.«

In dem Moment, wo die Verantwortung auch bei der Ukraine gesucht und festgestellt wird, dass alles bereits 2014 nicht so funktioniert hĂ€tte, wie Gabriel es nun rĂŒckblickend fĂŒr richtig erachtet, rechtfertigt er damit auch Deutschlands jetzige Ukrainepolitik. Auch so optimiert man seine politische SelbsterzĂ€hlung, man stellt die Torpfosten in der Vergangenheit um, sodass das Eigentor der Gegenwart wie ein vergeigter Elfmeter wirkt. Man schafft rĂŒckwirkend eine neue KontinuitĂ€t, durch welche die Geschichte aus der Zukunft in die Vergangenheit fließt.

GegenwĂ€rtig werden die negativen Konsequenzen zahlreicher solcher sozialdemokratischen Entscheidungen sichtbar, weshalb sie auch jetzt umso mehr kritisiert werden mĂŒssen. Dabei ist es natĂŒrlich bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, weshalb Entscheider wie Steinmeier und Gabriel, Manuela Schwesig oder Gerhard Schröder retroaktiv ihr Handeln narrativieren, um nicht inkompetent dazustehen. Zugleich offenbart sich eine alte strukturelle Zögerlichkeit der SPD sowie der Regierung, die von den Verantwortlichen in der Flucht nach vorn als kollektive Entschlossenheit umetikettiert wird. Denn man habe ja stets alles »in Abstimmung mit den Partnern« gemacht, weil man sich keine AlleingĂ€nge vorwerfen lassen wolle – was einfach inhaltlich schon damals nicht zutraf, Stichwort: Nord Stream 2.

Das von Olaf Scholz heraufbeschworene Szenario eines deutschen »Alleingangs« ist ein perfektes Vehikel, um eine unterlassene Handlung auch im Nachhinein als strategisch kluges Manöver zu erzĂ€hlen. Diese ZurĂŒckhaltung, die angeblich von staatsmĂ€nnischer FĂŒhrungsfĂ€higkeit zeugt, betont er immer wieder, nicht zuletzt in seiner Ansprache letzten Dienstag. Nur wird es durch die Wiederholung nicht zutreffender.Mehr zum Thema

Wie Steinmeier, der meinte, »da habe ich mich, wie andere auch, geirrt«, erinnert auch Scholz gern an die Idee einer verteilten Verantwortung, um sich selbst eine moralische Absolution fĂŒr seine Entscheidungen zu verleihen. Denn wenn viele es machen oder gemacht haben, dann kann der Fehler ja nicht so drastisch sein wie behauptet beziehungsweise eine Entscheidung fĂŒr oder gegen etwas nicht ganz so arg falsch sein:

»Direkt zu Beginn des Krieges haben wir entschlossen gehandelt, und zwar mit beispiellosen Sanktionen und mit der Entscheidung, erstmals in grĂ¶ĂŸerem Umfang Waffen in dieses Kriegsgebiet zu liefern. Viele in Europa sind diesem, unserem Schritt gefolgt.«

Na ja, wie definiert man viele? GroßbritannienBelgienPolenEstland hatten vor Deutschland Waffen geliefert. Entspringt also diese jetzt behauptete Vorreiterrolle, die einerseits selbstlegitimierend, andererseits mahnend prĂ€sentiert wird, einer besonders durchdachten Selbstwahrnehmung, einem ĂŒberzeugten Handeln fern der Öffentlichkeit – oder handelt es sich doch eher um eine rhetorische VerklĂ€rung?

Der Bingo-Satz mit dem Stichwort »AlleingĂ€nge« – das auch der GeneralsekretĂ€r Kevin KĂŒhnert dieser Tage aufgriff, um die RĂŒckwĂ€rtsrolle der Regierung in Sachen Waffen zu begrĂŒnden – ist inhaltlich einfach nicht zutreffend: »Das alles geschieht eng abgestimmt mit den Partnern hier in Europa und auf der anderen Seite des Atlantiks. Deutsche AlleingĂ€nge wĂ€ren falsch.«

Nun. Die Nato war zu langfristigen Waffenlieferungen an die Ukraine bereit, Nato-GeneralsekretĂ€r Jens Stoltenberg sagte am 8. April der BBC 4: »Die Alliierten sind bereit, mehr und auch modernere und schwerere Waffen zu liefern.«

Woher kommt also die dominierende öffentliche (falsche?) Wahrnehmung, dass hier vonseiten der SPD entweder nicht gehandelt oder nur schlecht kommuniziert wird – oder beides?

Politisches Retcon

Im Bereich des fiktionalen ErzĂ€hlens gibt es im Englischen den Begriff »retcon« beziehungsweise »retroactive continuity«, auf Deutsch: »RĂŒckwirkende KontinuitĂ€t«. Als literarisches Mittel ist damit eine bewusste nachtrĂ€gliche VerĂ€nderung einer erzĂ€hlerischen KontinuitĂ€t gemeint, damit diese besser in eine GesamterzĂ€hlung passt und damit scheinbar widersprĂŒchliche Ereignisse wieder sinnvoll, schlĂŒssig, logisch verbunden werden. Solch eine Revision vergangener HandlungsstrĂ€nge können Autoren aus verschiedenen GrĂŒnden vornehmen: um eine Fortsetzung des eigenen literarischen Schaffens zu ermöglichen; um negative Kritik aufzunehmen und glattzubĂŒgeln; um eine Neuinterpretation des eigenen erzĂ€hlerischen Kosmos zu erlauben; um falsche Annahmen der Vergangenheit zu beseitigen; oder um sich dem gegenwĂ€rtigen Zeitgeist anzupassen.Mehr zum Thema

Sie erkennen, wie hilfreich literarische Stilmittel sein können, um das Verhalten von politischen Helden zu begreifen, die solche rhetorischen Tricks natĂŒrlich nur zu gut beherrschen und auch als ParteirĂ€son verinnerlicht haben. Was fĂŒhrende Vertreter der SPD momentan betreiben, ist politisches »retconning«; eine nachtrĂ€gliche narrative Bereinigung von WidersprĂŒchen, man könnt sagen: eine NeuerzĂ€hlung. Nicht Geschichtsrevisionismus, aber doch eine eigene Geschichtsschreibung, in der die Ereignisse um die eigene Person und Partei sich aus einer gĂŒnstigeren Perspektive abgespielt haben sollen.

In dieser Historiografie mit Mut zur LĂŒcke vergisst Sigmar Gabriel auch mal, dass er den Gazprom-Chef Alexej Miller 2017 erneut traf – entgegen seiner eigenen Aussage gegenĂŒber der »New York Times« . Eine Lappalie? Eine menschliche ErinnerungslĂŒcke? Vielleicht? Aber wie kann sich Gerhard Schröder so sicher sein, dass Putin wirklich nicht all die Kriegsverbrechen angeordnet hat, die man ihm vorwirft?

Insbesondere in den rĂŒckwirkenden VerzĂ€hlungen von Schröder und Gabriel zeigt sich ein SelbstverstĂ€ndnis dieser Partei, das mir als ein strukturelles erscheint und das trotz »Zeitenwende« aus der Zeit gefallen ist. Es vermittelt das Bild von Politikern, die es augenscheinlich als selbstverstĂ€ndlich erachten, dass die große Weltpolitik zum vermeintlichen wirtschaftlichen Wohle dieses Landes in kleinen VIP-Lounges von Fußballstadien gemacht wird und dabei immer auch das eigene Auskommen nach der politischen Karriere mitverhandelt wird; der elefantige FĂŒhrungsstil von Abgeordneten, fĂŒr welche die MĂ€rchen vom »Wandel durch Handel« und vom »Sport als Chance zur VölkerverstĂ€ndigung« immer auch luxuriöse Ausbeute fĂŒr den eigenen KlĂŒngel bedeuten.Mehr zum Thema

Es erstaunt mich, dass die neue Generation der SPD diesen Modus nicht energischer kritisiert und einfach so fortzusetzen scheint. Auf die Frage der Journalistin Catherine Vogel, weshalb die SPD nun doch umschwenkt und entgegen vorheriger Absichten schwere Waffen liefert, woher dieser Sinneswandel kĂ€me, antwortete Kevin KĂŒhnert im »ARD Brennpunkt: Krieg gegen die Ukraine« :

»Da muss ich Ihnen widersprechen. Sie haben es ja in der ersten Bemerkung korrekt gesagt: Wir wollen keine AlleingÀnge machen. Und mit der heutigen Entscheidung, dass Deutschland an die Ukraine Flugabwehrpanzer liefert, ist genau das nicht passiert.«

Herr KĂŒhnert, wenn Sie erpresst werden, blinzeln Sie zweimal oder kommen Sie mit einem weißen Schild in ein Insta-Video von Habeck gelaufen.

Oder Lars Klingbeil hat beispielsweise betont, dass die Wahl der FDP fĂŒr die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine »eigentlich eins zu eins den Kurs der Regierung« unterstĂŒtze und die FDP den Kurs nur unterstrichen hĂ€tte : »Wir liefern indirekt schon jetzt schwere GerĂ€te, indem wir beispielsweise unsere BĂŒndnispartner unterstĂŒtzen im Ringtausch, indem wir durch die Industrie das Ganze auch ermöglichen.«

Das meint politisches »retconning«, nach Kritik zu erklĂ€ren: »Wir haben ja schon immer alles gemacht, wofĂŒr man uns kritisiert, es nicht getan zu haben«. Es wird nicht richtig kommuniziert, sondern so getan, als wĂ€ren Schweigen oder das mutmaßliche Ausbleiben von Handlungen Teil einer schlauen Strategie unter Ausschluss der nervenden Öffentlichkeit und Opposition; der »Jungs und MĂ€dels«, die es eben nicht besser wissen und von Emotionen geleitet werden.

Was wĂŒrden Regierende verlieren, wenn sie (ja ja, er wurde jetzt schon zur GenĂŒge gelobt, ich weiß) sich ein Beispiel an Robert Habeck nehmen und endlich jenseits von Parteipolitik wie proaktiv VerantwortungĂŒbernehmende kommunizieren und nicht im verdrucksten Modus retroaktiver Schadensbegrenzung?

Die SPD braucht Politiker:innen, die glaubhaft nach vorn erzĂ€hlen können und die – bei aller Liebe zu Fehlern und zweiten Chancen – diejenigen Ă€chten und zur Rechenschaft ziehen, die auf egoistische Weise und mit fatalen Konsequenzen fĂŒr dieses Land nur rĂŒckwĂ€rts leben und erzĂ€hlen wollen.

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