đŸ”„đŸ”„ Der kontrollierte Bankrott đŸ”„đŸ”„

26. Mai 2020 0 Von DieVolleWahrheit

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Dieter Schnaas Quelle: Werner Schuering fĂŒr WirtschaftsWoche
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Dieter Schnaas Textchef und Autor WirtschaftsWoche Zur Kolumnen-Übersicht: Tauchsieder

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đŸ”„Unser Wirtschaftssystem floriert auf der Basis des Ruins. Die aufgeschobene Insolvenz ist seine GeschĂ€ftsgrundlage. Schulden werden nicht mehr getilgt, sondern mit neuen Schulden ins Unendliche verlĂ€ngert. Wie lange kann das gutgehen? Ein Blick in die Wirtschaftsgeschichte liefert Antworten. 23. Mai 2020

Bundeskanzlerin Angela Merkel und StaatsprĂ€sident Emmanuel Macron haben in dieser Woche ihre „deutsch-französische Initiative zur wirtschaftlichen Erholung Europas nach der Coronakrise“ vorgestellt. Danach soll die EU, ĂŒber bereits beschlossene Hilfsmaßnahmen hinaus, einen 500 Milliarden Euro schweren „Wiederaufbaufonds“ einrichten. Das Prinzip: BrĂŒssel leiht sich Geld an den FinanzmĂ€rkten – und verteilt es in Form von zweckgebundenen ZuschĂŒssen an besonders betroffene Branchen, Regionen und LĂ€nder. Deutschlands Anteil an dem Programm liegt, entsprechend dem deutschen Anteil am EU-Haushalt (27 Prozent), bei 135 Milliarden Euro. Die RĂŒckzahlung der Schulden soll aus dem EU-Haushalt erfolgen und sich ĂŒber 20 Jahre erstrecken.

Aber handelte es sich im Fall einer RĂŒckzahlung der Schulden tatsĂ€chlich um ZuschĂŒsse? Klar ist: Die Kredite stellen eine gemeinsame Verbindlichkeit aller EU-LĂ€nder dar, fĂŒr deren GĂŒnstigkeit und GĂŒte vor allem solvente LĂ€nder wie Deutschland bĂŒrgen. Das kommt stark verschuldeten Volkswirtschaften, von deren BonitĂ€t die privaten GlĂ€ubiger nur noch begrenzt ĂŒberzeugt sind, zu gute. Insofern stellen die niedrigen Zinsen der Anleihen bereits indirekt einen Zuschuss Deutschlands an andere LĂ€nder dar.

Klar ist aber auch: Nur wenn die HauptempfĂ€nger am Ende weniger zurĂŒckzahlen als sie erhalten, kommen sie in Genuss von ZuschĂŒssen, nicht Krediten. Es sei denn, die RĂŒckzahlung der Schulden erstreckt sich nicht ĂŒber 20 Jahre, sondern die Schulden werden beizeiten mit neuen Schulden beglichen, also gleichsam ad infinitum, ins Unendliche verlĂ€ngert.

Wahrscheinlich ist das der Kern des Kompromisses zwischen den Regierungszentralen in Deutschland und Frankreich: Merkel kann die Hilfen den Deutschen (mit MĂŒhe) als Kredit verkaufen, Macron den Franzosen (mit Stolz) als Zuschuss – und beiden gemeinsam ist, dass sie vor allem Zeit kaufen, wieder einmal: Die aufgeschobene Insolvenz ist spĂ€testens seit der Finanz- und Eurokrise die GeschĂ€ftsgrundlage unseres Wirtschaftssystems, der kontrollierte Bankrott sein konstitutives Element. Neu ist allein, dass es seit der Coronakrise niemanden mehr gibt, der diese Elementartatsache zu bemĂ€nteln versucht: Der finanzmarktliberale Staatsschuldenkapitalismus floriert paradoxerweise auf der Basis seines Ruins. Corona-Wiederaufbaufonds Auf dem Weg in die EU-Schuldenunion Der Corona-Wiederaufbaufonds beschleunigt den Umbau der EU in eine Schuldengemeinschaft. FĂŒr die deutschen Steuerzahler wird es teuer. von Malte Fischer

Der Ökonom Jens SĂŒdekum hat sich in einem Beitrag fĂŒr das Handelsblatt zuletzt glasklar ausgedrĂŒckt: Wir mĂŒssen die explodierenden „Staatsschulden
 einfach hinnehmen“. Und es stimmt ja auch: Ohne Stimuli der Regierungen und Notenbanken wĂŒrde die Weltwirtschaft jahrelang „in einem deflationĂ€ren Labyrinth feststecken“. Was es daher brauche, so SĂŒdekum weiter, seien Steuersenkungen, öffentliche Investitionen – und Schulden, die „möglichst langfristig finanziert und durch permanentes ÜberwĂ€lzen – also die Ausgabe neuer Anleihen zur Bedienung der alten – immer weiter in die Zukunft geschoben werden“. SĂŒdekum glaubt, die Industriestaaten könnten auf diese Weise, vor allem dank strukturell niedriger Zinsen, „aus dem Schuldenproblem der Coronakrise einfach herauswachsen“ – ihre Kreditprobleme im Wege der Geldschöpfung, „offiziell und unbegrenzt“, lösen.

Doch was, wenn die Zinsen nicht niedrig blieben? Wenn die Notenbanken aufhörten, unaufhörlich Geld zu schöpfen, den Preis des Geldes kĂŒnstlich niedrig zu halten? Nun – dann kollabierte das Geldsystem. Daran haben die Akteure an den FinanzmĂ€rkten ersichtlich kein Interesse. Sie mĂŒssten dasselbe Geldsystem beargwöhnen, das vor allem sie prĂ€miert: ein Geldsystem, das ihre Vermögen schĂŒtzt und von allen ErschĂŒtterungen des realwirtschaftlichen Lebens abschirmt. Die „StabilitĂ€t“ der Indizes weltweit beweist es: Die Aufgabe der FinanzmĂ€rkte besteht nicht mehr wie ehedem darin, der Wirtschaft als ihr Seismograf ĂŒber sich selbst Auskunft zu verleihen, sondern darin, dass das Geld der Vermögenden sich in ihnen möglichst unbegrenzt vermehren kann. „Die Börse“ ist in diesem System kein Markt der MĂ€rkte mehr, in denen die Wirtschaft sich selbst den Puls fĂŒhlt, sondern eine Geldmaschine, die darauf programmiert ist, alle Verbindungsreste zur schwach wachsenden Realwirtschaft zu kappen. Das „interessierte Geld“ institutioneller Anleger sammelt sich als „Marktkapitalisierung“ zusehends in den wenigen wachstumsstarken The-Winner-takes-it-all-Unternehmen des spĂ€tmodernen Plattformkapitalismus und forciert damit seinerseits die Konzentration der Wirtschaft und Vermögen – auf Kosten des Wettbewerbs und der Nicht-Besitzenden: Amazon ist heute mehr wert als alle 30 Dax-Titel zusammen – und hĂ€lt viele seiner Mitarbeiter gern besonders kurz.

Und die nominell unabhĂ€ngigen Notenbanken? Die sind in diesem Spiel lĂ€ngst zu DurchfĂŒhrungsagenturen einer in Washington, Berlin und BrĂŒssel abgemischten Rettungspolitik verkommen – dazu verdonnert, immer neues Fiatgeld in das zu pumpen, wofĂŒr frĂŒher einmal das Wort vom „gesunden Wirtschaftskreislauf“ zur VerfĂŒgung stand. Der Kulturwissenschaftler Joseph Vogl spricht zu Recht von „SouverĂ€nitĂ€tsreservaten eigener Ordnung“, in denen Staaten, Notenbanken und FinanzmĂ€rkte informell miteinander verflochten sind und operieren: von einer „exekutiven Macht“ ohne Mandat, die sich im Rahmen „einer allgemeinen NotstandsmentalitĂ€t“ formiert hat. Sie wirkt als „vierte Gewalt“, in der „StabilitĂ€tsmechanismen“ und „Hilfsfonds“ unklare Interessen von BĂŒrgern, Anlegern und Steuerzahlern vertreten, FinanzmĂ€rkte als Agenturen ĂŒberschuldeter Steuerstaaten auftreten und Notenbanken beliebig Billiggeld verteilen, damit klamme Staaten fĂŒr klamme Banken geradestehen, die fĂŒr klamme Staaten geradestehen.đŸ”„

Wie lange kann das gutgehen? Und: (Wie) kommen wir aus dieser Nummer jemals wieder raus? Die gute Nachricht ist: Es kann lange gutgehen. Die Schlechte: Es wird schmerzvoll. Das zeigt ein kleiner, unbedingt lohnender Ausflug in die Wirtschaftsgeschichte.

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đŸ”„Lernen vom England des 18. JahrhundertsđŸ”„

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đŸ”„Am 26. Februar 1797 wird die Bank of England per Kabinettsorder und Parlamentsbeschluss von der Verpflichtung befreit, Banknoten in MĂŒnzgeld zu wechseln und damit eine Deckung des umlaufenden Papiergelds zu garantieren. Es ist ein Schock. Die Geldreserven der Bank sind nach dem Krieg zwischen England und Frankreich erschöpft; einem Barvermögen von 1,27 Millionen Pfund steht ein Notenumlauf von 8,64 Millionen Pfund gegenĂŒber – die Bank ist zahlungsunfĂ€hig. Statt jedoch Konkurs anzumelden, weil sie die (potenziellen) Forderungen ihrer GlĂ€ubiger nicht mehr (alle zugleich) bedienen kann, ruft die Bank kurzerhand eine bank-restriction aus, ein Konversionsverbot fĂŒr Banknoten. Und siehe da: In den nĂ€chsten Tagen und Wochen zeigt sich, dass der pure Glaube an das neue Schein-Geld Berge versetzen kann. Die faktische Insolvenz bleibt folgenlos. Die Banknoten zirkulieren munter weiter – im bloßen Vertrauen darauf, dass das Papiergeld bis zum erhofften Widerruf der BankeinschrĂ€nkung seinen Wert behĂ€lt und die Bank zwischenzeitlich genĂŒgend Kapital aufbaut, um die Notenausgabe kĂŒnftig wieder auf den Betrag des Bankkapitals beschrĂ€nken zu können.

Das Geld, zweieinhalbtausend Jahre lang gesetzlich beglaubigter TrĂ€ger seines Wertes (MĂŒnz-Geld), verliert damals buchstĂ€blich seinen (Ge-)Halt – und wird Geld allein dadurch, dass die Bank fĂŒr es bĂŒrgt – ein ungeheuerlicher Vorgang, der bereits von den Zeitgenossen als Weltbegebenheit gefeiert und zugleich als zutiefst beĂ€ngstigendes Ereignis wahrgenommen wird, als alle StabilitĂ€t, Dauerhaftigkeit und Sicherheit buchstĂ€blich erschĂŒtternder Epochenbruch, allenfalls vergleichbar mit dem Erdbeben von Lissabon (1755).

Der Skandal der britischen Geldrevolution besteht aber nicht nur in der Entmaterialisierung des Geldes, sondern vor allem in seiner kĂŒnstlichen „VerlĂ€ngerung“ als Vorschuss, Kredit und Schuld, in seiner „Verdopplung“ als Bargeld und Obligation: Die neue Banknote ist Geld und Anti-Geld zugleich. Bisher war Papiergeld als Zahlungsmittel ja ĂŒberhaupt nicht in Umlauf. Als Zahlungsversprechen (Wechsel) entsprach es einem Schuldschein – und das Vertrauen in diese „Quittungen“, „Noten“, „Billets“ und „Zettel“, die als goldsmith notes bei Goldschmieden, spĂ€ter dann bei Banken, eingelöst wurden, beruhte eben darauf, dass sie jederzeit durch KurantmĂŒnzen und Edelmetallbarren abgesichert waren – und dass der SouverĂ€n fĂŒr ihre Annahmepflicht bĂŒrgte. Mit dem Referenzverlust des Papiergeldes stellt sich nun die bange Frage, ob die Weigerung der Bank, das Metallgeld auszuzahlen, nicht das gleiche bedeutet wie die Weigerung der Bank, ĂŒberhaupt (jemals) zu zahlen – und das Wunder der bank-restriction besteht darin, dass der Anspruch auf Einlösung eines Schuldtitels ohne Bedeutung ist, sofern man sich einig ist, den Anspruch (vorerst) aufzugeben – und das Zahlungsversprechen einfach weiter reicht. Es ist ziemlich exakt das, worum es in der Forderung nach einer „Verewigung von Schulden“ auch in diesen Wochen geht: um eine Ausweitung der Geldschöpfung, die das Band wechselseitiger AbhĂ€ngigkeit stĂ€rkt.

Zu den problematischen Folgen dieser monetĂ€ren Umformatierung damals gehört, dass sich Schuld und Schulden nicht mehr eindeutig zurĂŒckverfolgen lassen, dass sich Zahlungsketten fiktionalisieren. Bereits Adam Smith weiß von Schuldnern zu erzĂ€hlen, die ihre Schulden durch immer neue Schulden bezahlen – was bei FĂ€lligkeit und PrĂ€sentation der Wechsel zwangslĂ€ufig zu einer Serie von Bankrotten fĂŒhren mĂŒsse – irgendwann. Denn einerseits sind die Zahlungen „völlig fiktiv“ so Smith, weil „der Strom, den die umlaufenden Wechsel aus den Tresoren der Banken fließen ließen, niemals durch einen anderen ersetzt [wurde], der tatsĂ€chlich wieder dorthin zurĂŒcklief“. Andererseits gilt: „Selbst wenn alle zahlungsunfĂ€hig werden
, was durchaus wahrscheinlich ist, wĂ€re es doch reiner Zufall, falls sie es innerhalb kurzer Zeit wĂŒrden.“ Hellsichtig erkennt Smith, dass sich mit dem neuen Papiergeld eine neue Pumpwirtschaft und mit der neuen Pumpwirtschaft eine neue MentalitĂ€t der Sorglosigkeit ausbreitet: „Das Haus ist zwar baufĂ€llig und wird nicht mehr lange stehen, sagt sich ein mĂŒder Reisender, aber es wĂ€re schierer Zufall, wenn es gerade heute Nacht einstĂŒrzte; ich will es daher wagen, darin zu ĂŒbernachten.“

Schöner kann man es auch heute nicht ausdrĂŒcken. Denn das ist der Kern: Die GenialitĂ€t der Bank of England besteht nicht etwa darin, die eklatante DeckungslĂŒcke des neuen Papiergeldes zu verheimlichen, sondern darin, sie zur offiziellen GeschĂ€ftsgrundlage zu erklĂ€ren: in der offiziellen Verzeitlichung der Einlösepflicht – in dem frechen Versprechen, eine Kompensation der umlaufenden Schulden nicht etwa anzustreben, sondern vorerst auszuschließen. Nur weil es als Schein-Haftes zirkuliert, als Geld und Schuld zugleich, steigt es zum schuldenfrisierten Hybridmotor der Wirtschaft auf. Nur weil alles Gold und Silber der Welt nicht ausreicht, die AnsprĂŒche aller zu befriedigen, die dieses Gold und Silber auf einmal begehren, ist es zugleich Ausgleich und dauernder Anspruch, Bargeld und stĂ€ndige Forderung, Zahlungsmittel und ewiges Versprechen – zugleich money and claim, ein monetĂ€rer Verschnitt seiner Geld- und Krediteigenschaften, ein zur Einheit aus BonitĂ€t und ZahlungsunfĂ€higkeit verdichteter Widerspruch, der seinen Nutzern einen unendlichen Aufschub einrĂ€umt: Jede Zahlung eröffnet die Aussicht auf eine anschließende Zahlung; und jedes Zahlungsversprechen hat immer weitere, also prinzipiell unabschließbar viele Zahlungsversprechen zur Folge


Eine Kompensation der umlaufenden Schulden ist in diesem Geldsystem explizit nicht mehr gewĂŒnscht – und seine StabilitĂ€t besteht einzig und allein darin, dass jeder in ihm auf den anderen verwiesen ist, weil er weiß, dass das, was er (nicht) besitzt, immer auch von allen anderen (nicht) besessen wird. Der kontrollierte Bankrott wird dadurch gleichsam mitlaufend zur Institution der neuen Scheinwirtschaft, die aufgeschobene Insolvenz zu ihrem konstitutiven Faktor, die systematische Verschuldung zu ihrem mitlaufenden Credo. Ganz so wie heute.

Und – wie geht die Geschichte aus? Damals gut. Die bank-restriction endet vor exakt 200 Jahren mit der sogenannten Peel’s Bill, der sukzessiven RĂŒckkehr Großbritanniens zum Goldstandard, der Rettung des werthaltigen Geldes. Der konservative Staatsmann und spĂ€tere Premier Sir Robert Peel setzte die Reform damals durch – gegen den Widerstand von Finanziers, Industriellen und Spekulanten, die, damals wie heute, zu den grĂ¶ĂŸten Profiteuren der Geldexpansion zĂ€hl(t)en.

Und heute? Heute sind Staatschefs und Finanzmarktakteure so stark aufeinander angewiesen, dass eine Lösung unmöglich scheint, weil jede weitere Krise weitere Notfallmaßnahmen erfordert – und das Schuldenproblem dadurch zugleich verzeitlicht und verschĂ€rft wird. Geschichte wiederholt sich nicht, klar. Aber ihre Episoden enden ganz sicher – irgendwann. Auch die Episode der „ewigen Schulden“.đŸ”„