🔥 Interview mit Historiker Berg USA befinden sich in “bürgerkriegsähnlicher Situation” 🔥

24. Juli 2022 Aus Von DieVolleWahrheit

18.07.2022, 13:27 Uhr (aktualisiert)

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Todesschützen, der Sturm aufs Kapitol, aus der Zeit gefallene Urteile des konservativ dominierten Supreme Court: In den Vereinigten Staaten spitzen sich die Konflikte auf ungeahnte Weise zu. Der Historiker Manfred Berg sieht das Land so nah an einem Bürgerkrieg wie seit dem Sezessionskrieg nicht mehr. Es geht um ethnische Identität und weißen Nationalismus, um Hegemonie und Lebensentwürfe, um Ängste und Autokratie. Eine Schlüsselrolle spielt Ex-Präsident Donald Trump.

ntv.de: Herr Berg, die USA durchlaufen spätestens seit der Wahl von Donald Trump 2016 eine gesellschaftliche Zerreißprobe, die kein Ende zu nehmen scheint. Was hat er mit der Demokratie gemacht?

Manfred Berg: Das Schlimmste war, dass er die grundlegende Norm des friedlichen demokratischen Machtwechsels erfolgreich untergraben hat: Dass der Verlierer einer Wahl das Ergebnis akzeptiert. Politologen in den USA nennen das den loser’s consent. Nach wie vor glaubt eine deutliche Mehrheit der republikanischen Anhänger an die Lüge von der gestohlenen Wahl. Ein bedeutender Teil sieht selbst den Sturm aufs Kapitol vom 6. Januar 2021 als legitime Form des Protests an. Durch die Arbeit des Untersuchungsausschusses haben wir bereits viele Details darüber erfahren, wie weitreichend Trump in seinen nicht besonders gut koordinierten, aber doch sehr entschlossenen Absichten war, diese Wahl durch eine Art von Putsch zu annullieren.

Was geschieht, wenn es keinen loser’s consent mehr gibt?

Historiker und Sozialwissenschaftler sehen dies als Vorstufe zum Bürgerkrieg an. Es gibt in der US-Geschichte einen großen Präzedenzfall, den Bürgerkrieg von 1861 bis 1865. Der wurde ausgelöst durch die Präsidentschaftswahl 1860, als der Süden die Wahl Abraham Lincolns nicht akzeptierte und zum Anlass für die Sezession nahm.

In den USA heißt es sehr häufig, die Stärke des demokratischen Systems sei, dass es sich selbst erneuern könne, hin zu einer more perfect union. Gab es nach dem Sezessionskrieg noch einmal eine vergleichbare Situation, aus der es dann einen Ausweg gab? Oder befinden sich die Vereinigten Staaten in einer historisch einmaligen Lage?

Zumindest würde ich argumentieren, dass eine so gefährliche, zugespitzte, polarisierte und gewaltträchtige Situation seit dem Sezessionskrieg nicht mehr existiert hat. Es gab immer wieder politische Gewalt auf Einzelstaatsebene. Aber eine derartig zugespitzte Polarisierung zwischen zwei identitätsbasierten politischen Lagern, die sich gegenseitig als tödliche Bedrohung ihrer Kernwerte und Lebensvorstellungen betrachten, das würde ich sagen, hat es seit dem amerikanischen Bürgerkrieg so nicht gegeben.

Woran richten sich diese unterschiedlichen Lebensvorstellungen aus?

Das hat mit der demografisch-ethnischen Polarisierung zu tun, die zentral für das Verständnis der amerikanischen Politik ist. Etwa 90 Prozent der Anhängerschaft der Republikaner sind Weiße. Bei den Demokraten sind sie nur noch eine Minderheit. Wir haben eine – das zeigen alle Studien, alle Umfragen – klare Polarisierung des Parteiensystems dahingehend, dass die Republikaner die Partei der weißen, konservativen, traditionellen, religiösen, ländlichen Milieus sind, und die Demokraten eine sehr breite Koalition bilden aus gesellschaftlichen und ethnischen Minderheiten und den liberalen, relativ gut situierten Weißen auf der anderen Seite. Das spiegelt sich in sozial räumlicher Separation. Es gibt den berühmten Gegensatz zwischen den Küsten und flyover country, aber vor allem enorme Konflikte zwischen Stadt und Land. Für die Republikaner war und ist die demografische Entwicklung ein riesiges Problem.

In diesem Konflikt fühlen sich beide Seiten nicht gut repräsentiert. Das Vertrauen in die Institutionen – nur 7 Prozent trauen dem Kongress, 14 Prozent der Justiz – ist auf Rekord-Tiefstwerten. Woran liegt das?

Die USA galten nach dem Zweiten Weltkrieg als Inbegriff einer konsensorientierten Staatsbürgerkultur. Die amerikanische Verfassung ist wegen ihrer berühmten checks and balances immer auch als eine sehr stabilisierende Kraft angesehen worden. Stabilität setzt jedoch Kooperationsbereitschaft und Überparteilichkeit voraus. Wenn sie wegfallen, wird dieses System, das enorm viele Möglichkeiten zur Blockade bietet, dysfunktional. Unter anderem, weil die ländlichen Bundesstaaten im Kongress deutlich überrepräsentiert sind. Hinzu kommen seit etwa zehn, fünfzehn Jahren offensichtliche Versuche, durch manipulative und diskriminierende Wahlgesetze den Minderheiten in den Einzelstaaten gezielt die Ausübung ihres Wahlrechts zumindest zu erschweren.

Diese antidemokratische Tendenz, die hatten die Republikaner nicht immer so wie aktuell.

Es gab in der Republikanischen Partei immer auch Kräfte, die gesagt haben, wir müssen uns öffnen, wir müssen uns neue Wählerschichten erschließen. Es war kein Zufall, dass George W. Bush oder auch John McCain durchaus erfolgreich um Hispanics geworben haben. Donald Trump hingegen hat mit dem Slogan “Make America Great Again” im Grunde die Wiederherstellung einer euro-amerikanischen weißen Hegemonie versprochen und die Partei auf einen radikal xenophoben und rassistischen Kurs geführt. Die Republikaner haben nach der Bürgerrechtsbewegung eine völlig neue Allianz gebildet, um ein Sammelbecken für konservative, vor allem auch evangelikale weiße Christen zu werden. Der liberale Flügel der Republikanischen Partei, den es immer gegeben hatte, wurde marginalisiert. Das alles war aber nicht notwendigerweise Politik, die man als antidemokratisch oder demokratiegefährdend bezeichnen kann, sondern die Grundlage der Reagan-Koalition, und die war sehr erfolgreich. Sie hat große Mehrheiten bei den Wahlen in den 1980er-Jahren erzielt.

Und heute?

Heute sehe ich eher eine große Parallele zu der Zeit vor dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert. Damals war es die Sklavenhalterklasse, die sich bedroht fühlte, die glaubte, ihre Macht und ihr Lebensstil seien tödlich bedroht und sie müsste sich verteidigen. Auch damals war es eher ein Identitätskonflikt als einer, bei dem es um materielle Verteilungsfragen ging. Das ist heute ähnlich. Die demographische Transformation der USA sehe ich als einen ganz wichtigen Faktor. Beim Zensus von 1960 oder selbst noch 1970 stuften sich fast 90 Prozent der Bevölkerung als weiß ein, gut 10 Prozent als Afroamerikaner. 2020 waren es noch rund 60 Prozent Weiße, aber fast 19 Prozent Hispanics als größte Minderheit, mehr als 13 Prozent Schwarze und 6 Prozent Asiaten. Bereits seit einigen Jahren sind mehr als 50 Prozent der in den USA geborenen Kinder nicht weiß. Laut Prognosen der US-Behörden werden etwa um 2045 weiße Amerikaner nur noch die stärkste ethnische Minderheit sein. Dieser Wandel geht einher mit einem enormen Bedrohungsgefühl in Teilen der weißen Bevölkerung, mit Überfremdungsängsten und Furcht vor Hegemonieverlust. Diese Entwicklungen treiben die Polarisierung ganz massiv voran.

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Trumps Anhänger überwältigen am 6. Januar 2021 die Sicherheitskräfte rund ums Kapitol und stürmten das Gebäude, während darin der Wahlsieg von Joe Biden zertifiziert werden sollte. Mehrere Menschen starben.(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)

Sie hatten den Bürgerkrieg angesprochen. Es gibt laut internationalen Konfliktforschern zwei entscheidende Faktoren, die auch in den USA zu beobachten sind. Erstens gruppieren sich die Republikaner als Partei um eine ethnische Identität, und zweitens sind die demokratischen Institutionen geschwächt. Sind die USA aus wissenschaftlicher Sicht näher an einem Bürgerkrieg als je zuvor seit dem Sezessionskrieg?

Ja, das ist leider so. Wenn die Norm des demokratischen Machtwechsels untergraben wird, wenn eine mögliche Wahlniederlage als fundamentale Bedrohung in diesen polarisierten Identitätslagern gesehen wird, ist politische Gewalt eine Option. Dabei kommen auch kulturelle Prägungen zum Tragen, ein starker Staat wird in den USA eher als in Europa als Bedrohung für die Freiheit empfunden. Bürger reklamieren für sich das Recht, eine Waffe zu tragen, um sich im Fall der Fälle gegen einen tyrannischen Staat wehren zu können. Wenn dann die Selbstverständlichkeiten demokratischer Institutionen nicht mehr akzeptiert werden und es diese starke Polarisierung zwischen identitätspolitischen Lagern gibt, die sich gegenseitig belauern, ist das gefährlich.

Welche Rolle spielt die Präsidentschaft Barack Obamas in dieser Entwicklung?

Für einen erheblichen Teil der weißen Bevölkerung war die Wahl Obamas eine narzisstische Kränkung erster Ordnung. Ohne ihn wäre Donald Trump als Gegenmodell, als Anführer und Bannerträger einer Gegenmobilisierung des weißen Nationalismus, nicht vorstellbar. Allerdings war Trumps Wahlsieg 2016 nicht unvermeidlich. Hillary Clinton hat gegen Trump verloren, weil sie einen schlechten Wahlkampf gemacht hat, sich als Repräsentantin einer abgehobenen, liberalen Elite präsentiert hat, die sich nicht für die Nöte der einfachen Leute interessiert.

Die beiden Lager schaukeln sich also auf?

Es gab immer wieder Phasen und Umschwünge in der US-Geschichte, wo klar war, jetzt hat die eine Seite mehr oder weniger die Überhand gewonnen. Nehmen wir mal die Wahl 1932, welche die Ära des New Deal und eine lange Zeit eines dominanten Liberalismus einleitete. Dann begann spätestens 1980 mit Ronald Reagan die konservative Hegemonie. Heute sind diese Lager, ihre jeweiligen Wählergruppen und Hochburgen in etwa gleich stark. Daraus resultiert ein Kampf auf Biegen und Brechen, ein “winning isn’t everything, it’s the only thing”, um die Gewichte zur einen oder anderen Seite zu verschieben. Auch der Kampf um den Supreme Court und dessen politische Instrumentalisierung ist ein ganz bedenkliches Zeichen. Eine Institution, die eigentlich ja eine friedensstiftende Funktion haben soll, wird zum politischen Spielball. Allerdings gab es schon früher lange Phasen, als die Konservativen extrem unzufrieden waren mit dem Obersten Gericht und dann den Plan gefasst haben: Wir müssen den Supreme Court zurückerobern. Das ist nun gelungen.

Es gab mehrere identitätsmotivierte Todesschützen, Anschlagspläne gegen Michigans Gouverneurin Gretchen Whitmer, den Sturm auf den Kongress am 6. Januar 2021. Ab wann kann man sagen: Ja, das ist ein Bürgerkrieg?

Wenn man im Kontext der amerikanischen Geschichte von Bürgerkrieg spricht, dann hat man bestimmte, sehr starke Bilder vor Augen, nämlich den Sezessionskrieg. Das ist ein Krieg, der hat 700.000 Menschen das Leben gekostet, ist geführt worden von regulären uniformierten Armeen und professionellen Militärs. So dürfen wir uns das heutzutage nicht vorstellen. Viel typischer ist das, was Politologen low intensity conflict nennen, also ein hohes, ständig steigendes Maß an politischer Gewalt. Manche Hassverbrechen sind durch die sogenannte Great Replacement Theory (den angeblich gezielt herbeigeführten Austausch der weißen Bevölkerung, Anm. d. Red.) motiviert. Neu ist das nicht, denken Sie an den schrecklichen Anschlag in Oklahoma City 1995. Das waren Rechtsterroristen. Man könnte deshalb argumentieren, dass sich die USA in einem Bürgerkrieg niedriger Intensität befinden. Diese Art permanenter Gewalt, von Terrorismus und auch die zunehmende Bereitschaft, Gewalt als Mittel der Politik zu legitimieren, verschärfen die Lage. Denken Sie an Trumps Aufforderung von 2017: “Proud Boys, stand back and stand by!” gerichtet an eine rechtsextreme Miliz. Die Ereignisse vom 6. Januar 2021, dies wird immer klarer, waren ein von Trump initiierter, gewaltsamer Putschversuch. All das zusammengenommen würde ich als bürgerkriegsähnliche Situation definieren. Und die Kulminationspunkte, an denen sich das Gewaltpotenzial zeigt, sind immer umstrittene Wahlen.

Die Spannungen könnten sich also rund um die Kongresswahlen am 8. November entladen?

Vermutlich werden die Republikaner die Mehrheit im Repräsentantenhaus erobern. Dann werden sich Präsident und Kongress feindlich gegenüberstehen. Früher war die parteipolitische Teilung der Macht zwischen Kongress und Präsident kein Problem. Eisenhower hat die meiste Zeit mit einem demokratischen Kongress regiert. Nixon hat mit einem demokratischen Kongress regiert. Reagan hat mit einem demokratischen Kongress regiert. Aber da gehörte Überparteilichkeit noch zur politischen Kultur der USA. Jetzt gibt es polarisierte Lager, die schon seit vielen Jahren auf Blockade gebürstet sind. Die Zeichen stehen nicht gut. Fast 40 Prozent der Anhänger von Republikanern und Demokraten halten eine Teilung des Landes in rote und blaue Bundesstaaten (Republikaner und Demokraten, Anm. d. Red.) für gar keine schlechte Idee.

Und sollte im Jahr 2024 erneut ein Demokrat gewinnen, könnten sich die Republikaner noch mehr in die Enge getrieben fühlen. Dazu kommen Klimawandelfolgen und möglicherweise Fluchtbewegungen aus Zentralamerika, wie sie die USA noch nie gesehen haben. Wenn die ethnische Frage von zentraler Bedeutung ist, könnte sich die Situation also noch weiter zuspitzen.

Die Vorstellung, es brauche nur den richtigen Präsidenten und der versöhnt dann das Land, die ist schlicht und einfach naiv. Dafür sind die USA schon zu gespalten. Joe Biden war auch nur ein Kompromisskandidat. Bei den Wahlen im November wird es ähnlich sein. Derzeit kommen viele Problemstellungen zusammen, die sich potenzieren. Auch der amerikanische Lebensstil, den wir in vieler Hinsicht teilen, gerät an seine Grenzen. Kalifornien hat 50 Millionen Einwohner. Das sind fast so viele wie in den großen westeuropäischen Staaten, aber fast ohne Wasser. Und trotzdem wird ein Lebensstil gepflegt, in dem die Einwohner von Los Angeles pro Kopf mehr Wasser verbrauchen als die Deutschen. Und bei uns regnet es noch deutlich mehr. Die Umweltkatastrophen kommen zukünftig noch hinzu.

Das alles klingt schon fast apokalyptisch.

Wir haben in den vergangenen Jahren und Monaten leider einige Dinge erlebt, die viele Leute für völlig alarmistisch gehalten haben. Als Historiker versucht man, im Rückblick zu erklären, warum Ereignisse, die lange nicht im Möglichkeitshorizont der Zeitgenossen lagen, dann doch eingetreten sind. Wir sind die Zeitgenossen unserer eigenen Gegenwart und müssen uns auch mit dem vermeintlich Unmöglichen auseinandersetzen. Vor zwölf, fünfzehn Jahren, speziell nach der Wahl Barack Obamas, da habe ich eher optimistisch auf die Zukunft der USA geschaut und gedacht, dies sei ein Zeichen dafür, dass die alten Konflikte in den Hintergrund treten und es einen neuen gesellschaftlichen Konsens in einer multiethnischen Gesellschaft geben kann. Das hat sich erledigt. Die Polarisierung ist weitergegangen.

Mit Dr. Manfred Berg sprach Roland Peters

(Dieser Artikel wurde am Samstag, 16. Juli 2022 erstmals veröffentlicht.)

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War für viele in den USA zu elitär: Hillary Clinton, die bei der Wahl 2016 Trump unterlag.

https://www.n-tv.de/politik/Was-wurde-eigentlich-aus-dem-Bueffelmann–article23038034.html